Patrilokalität

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Baumhaus des Korowai-Volkes in Papua-Neuguinea für bis zu 8 Personen (2006)

Patrilokalität (lateinisch pater „Vater“, locus „Ort“: Wohnsitz beim Vater) bezeichnet in der Ethnosoziologie eine Wohnfolgeordnung (Residenzregel), bei der ein Ehepaar nach der Heirat seinen Haushalt am Wohnort des Vaters eines der beiden Ehepartner einrichtet, der andere Partner zieht hinzu.[1] Die frühe Sozialanthropologie verstand darunter das Wohnen beim Vater des Ehemannes oder im Herkunftsgebiet des Ehemannes.[2][3]

Virilokalität („am Ort des Mannes“) ist allgemeiner gefasst und bezeichnet die Einrichtung des ehelichen Wohnsitzes beim Ehemann, dessen Vater, Familie oder am Ort seiner Abstammungsgruppe (Lineage oder Clan), die Ehefrau zieht hinzu. Virilokal wird mit der Bedeutung „mit oder nahe der Familie des Mannes“ dem missverständlichen patrilokal vorgezogen.[4]

Männerzentrierte Residenzregeln finden sich weltweit bei 96 % aller patri-linearen, nur nach der Vaterlinie geordneten indigenen Völkern und Ethnien,[5] die ihrerseits 46 % der erfassten 1300 Ethnien ausmachen.[6][7] In ihnen entstehen enge Beziehungen zwischen dem Vater und seinen Söhnen sowie zwischen den Brüdern und ihren Familien, während die Familie der Ehefrau ohne Bedeutung bleibt. Gewöhnlich bilden Väter, Brüder und Söhne eine Kerngruppe,[8] bis hin zu umfangreichen Patri-Lineages, innerhalb derer sich alle Verwandtschaftsbeziehungen auf nur einen gemeinsamen ursprünglichen Stammvater beziehen. Weltweit findet sich nur eine Ethnie mit patri-linearer Abstammungsregel, aber matri-lokaler Wohnfolge.

Bis 1957 war der Virilokalität entsprechend im bundesdeutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgelegt, dass als Wohnsitz einer Ehefrau automatisch der Wohnsitz ihres Ehemannes galt, außer der Ehemann begründete seinen Wohnsitz an einem Ort im Ausland, zu dem ihm seine Ehefrau nicht folgte und auch nicht zu folgen verpflichtet war (BGB § 10, alte Fassung). Auf Grund des bis dahin geltenden „ehelichen Entscheidungsrechts“ des Ehemannes (Gehorsamsparagraph § 1354) konnte er den gemeinsamen Wohnsitz nach eigenem Ermessen festlegen. Nur wenn der Ehemann auf die Einrichtung eines ehelichen Wohnsitzes verzichtete oder keinen Wohnsitz hatte, konnte die Ehefrau einen eigenen Wohnsitz festlegen.

Das in der Praxis vorgefundene Residenzmuster der Wohnsitzwahl kann von der kulturellen Norm der in einer Gesellschaft üblichen Residenzregel abweichen. In der Gegenwart wird in vielen Ethnien mit traditionell männerzentrierten Wohnfolgeregeln die moderne Lebensform der Kernfamilie bevorzugt und ein neuer Wohnsitz gegründet (Neolokalität), vor allem in Städten. Oft hat dies wirtschaftliche Gründe, beispielsweise die Abhängigkeit von Arbeitsplätzen.[9]

Residenz und Deszendenz

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Auswertungen der Datensätze von rund 1200 Ethnien des Ethnographischen Atlas[6] ergaben folgende Verteilungswerte für die Wohnfolgeregeln (Residenz) bei Gesellschaften mit einer patrilinearen Abstammungsregel (Deszendenz):[5]

  • 46 % aller Ethnien weltweit ordnen ihre Abstammung patri-linear, nur nach der Väterlinie (589 Gesellschaften):
    • 95,6 % wohnen viri/patri-lokal beim Ehemann, dessen Vater, Familie, Abstammungsgruppe (Lineage) oder Clan
    • 04,2 % wohnen vor allem neo-lokal („am neuen Ort“)
    • 00,2 % wohnt uxori/matri-lokal bei der Ehefrau, ihrer Mutter oder Familie (1 Ethnie)

Während patrilineare Völker den ehelichen Wohnsitz fast ausschließlich beim Mann einrichten, finden sich bei den Völkern, die sich nach der Mütterlinie organisieren, alle verschiedenen Möglichkeiten der Residenzwahl.[10]

Die Sozialanthropologin Gabriele Rasuly-Paleczek merkt allerdings 2011 an: „Heute wird diese Bezugnahme auf die Deszendenzsysteme meist abgelehnt und daher auch dafür plädiert, die Termini patri- bzw. matri-lokal nicht zu verwenden. […] Insgesamt gibt es in der Ethnosoziologie trotz umfangreicher Definitions- und Präsisierungsvorschläge noch immer keine einheitliche Klassifikation der verschiedenen Residenzformen.“ Eindeutiger sei „Virilokalität: bei Verwandten des Ehemannes – Uxorilokalität: bei Verwandten der Ehefrau“.[11]

  • Helmut Lukas, Vera Schindler, Johann Stockinger: Virilokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 1997; (vertiefende Anmerkungen zur „postnuptialen Residenz“, mit Quellenangaben).
  • Gabriele Rasuly-Paleczek: Darstellung der Residenzformen. (PDF: 705 kB; 206 S.) In: Einführung in die Ethnosoziologie (Teil 2/2). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2006, S. 226–233, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 1. Oktober 2008; (Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2006, ausführlicher als im SS 2011).
  • Hans-Rudolf Wicker: Postmaritale Wohnregeln. (PDF: 387 kB, 47 S.) In: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 13/14 und 30/31, abgerufen am 13. März 2020 (überarbeitete Version).
  • Brian Schwimmer: Patrilocal Residence. In: Tutorial: Kinship and Social Organization. Department of Anthropology, Universität Manitoba, Kanada, 1995; (englisch, umfangreiches Verwandtschaftstutorial).

Einzelnachweise

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  1. Thomas Bargatzky: Ethnologie: Eine Einführung in die Wissenschaft von den urproduktiven Gesellschaften. Buske, Hamburg 1997, ISBN 3-87548-039-2, S. 112: Kapitel 5.2 Deszendenzgruppen und Lokalgruppen (Seitenansichtvorschau in der Google-Buchsuche).
  2. Lukas, Schindler, Stockinger: Patrilokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 13. März 2020.
  3. Brian Schwimmer: Patrilocal Residence. In: Tutorial: Kinship and Social Organization. Universität Manitoba, 1995, abgerufen am 13. März 2020 (englisch).
  4. Lukas, Schindler, Stockinger: Virilokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 13. März 2020.
  5. a b Hans-Rudolf Wicker: Postmaritale Wohnregeln. (PDF: 387 kB, 47 S.) In: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 13/14, abgerufen am 13. März 2020 (überarbeitete Version).
    Die Zahlen auf S. 13/14:
    589 patrilineare Ethnien – ihr ehelicher Wohnsitz nach der Heirat (Residenzregel):
    000563 (95,6 %) wohnen patrilokal|viri/patri-lokal beim Ehemann oder seinem Vater
    000001 0(0,2 %) wohnt uxori/matri-lokal bei der Ehefrau oder ihrer Mutter
    000025 0(4,2 %) haben andere Wohnsitzregeln: neolokal, natolokal u. a.
  6. a b Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt. Begründet wurde der Ethnographic Atlas Anfang der 1950er vom US-amerikanischen Anthropologen George P. Murdock (1897–1985) zur standardisierten Daten-Erfassung sämtlicher Ethnien weltweit.
  7. J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (englisch; PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller damals 1267 erfassten Ethnien);
    Zitat: „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal […] 52 Duolateral […] 49 Ambilineal […] 11 Quasi-lineages […] 349 bilateral […] 45 Mixed […] 17 Missing data“.
    Prozente der 1267 Ethnien (1998):
    584 = 46,1 % patri-linear: Herkunft vom Vater und dessen Vorvätern
    160 = 12,6 % matri-linear: Herkunft von der Mutter und deren Vormüttern
    052 = 04,1 % bi-linear, duolateral: Unterschiedliches von Mutter und vom Vater
    049 = 03,9 % ambi-linear: Herkunft auswählbar, von Mutter oder Vater
    011 = 00,9 % parallel: einiges von der Mutter, anderes vom Vater (Quasi-Linien)
    349 = 27,6 % bilateral, kognatisch: Herkunft zugleich von Mutter und Vater (wie in der westlichen Kultur)
    045 = 03,6 % gemischt + 17 = 1,6 % fehlende Daten.
  8. Hans-Rudolf Wicker: Postmaritale Wohnregeln. (PDF: 387 kB, 47 S.) In: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 13, abgerufen am 13. März 2020 (überarbeitete Version).
  9. Gabriele Rasuly-Paleczek: ad. Residenzregeln und Residenzpraxis. (PDF: 853 kB; 52 Seiten) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 3/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 95–96, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. Oktober 2013; abgerufen am 13. März 2020.
  10. Robin Fox: Kinship and Marriage. An Anthropological Perspective. Cambridge University Press, Cambridge 1967, ISBN 0-521-27823-6, S. 115 (englisch; Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
  11. Gabriele Rasuly-Paleczek: Keine einheitliche Verwendung diverser Termini. (PDF: 853 kB; 52 Seiten) In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 3/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 94, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 17. Oktober 2013; abgerufen am 13. März 2020.